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Rezension zu Stephen Turnbull: Ninja: Unmasking the Myth (2017)

Lange hatte es auf sich warten lassen. Jetzt liegt vor, das neue Buch von Stephen Turnbull. „Ninja. Unmasking the Myth“ befasst sich historisch und wissenschaftlich umfassend mit dem Ninja-Phänomen und rüttelt heftig am vorherrschenden Verständnis. Seine Argumentationslinie stützt der Autor auf zahlreiche japanische Originalquellen, die zum Teil nie zuvor übersetzt und in den wissenschaftlichen Diskurs mit einbezogen wurden. Es geht ihm dabei vor allem darum, Fakten von Fiktionen zu trennen und falsche Annahmen und Halbwahrheiten zu entlarven. So gibt uns der Titel des Buches bereits einen Hinweis darauf, wohin der Leser am Ende geführt werden wird – nämlich den Mythos Ninja zu demaskieren.

Der Autor, Stephen Turnbull, ist emeritierter Professor der Leeds University und Experte auf dem Gebiet der japanischen Militärgeschichte, zu der er seit mehr als 30 Jahren forscht. Er ist mit dem Cannon Prize der British Association for Japanese Studies sowie dem Japan Festival Literary Award ausgezeichnet und hat zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Beiträge über die Samurai publiziert.

Bereits in seinem 2014 erschienenen Aufsatz „The Ninja: An Invented Tradition?“ (erschienenen in: The Journal Of Global Initiatives: Policy, Pedagogy, Perspective, Volume 9, Number 1: Interdisciplinary Reflections On Japan, siehe auch HOPLOblog-Hinweis), der auf seinen Vortrag an der Kennesaw State University in Georgia (USA) von 2013 basiert, gibt Turnbull die Richtung seiner Forschungsbemühungen vor: Er vertritt die These, dass das gesamte Phänomen eine erfundene Tradition (invented tradition) nach der Definition von Hobsbawm und Ranger (1983) darstellt und vieles, was wir über Ninja und Ninjutsu zu wissen glauben, schlicht und einfach falsch ist. Und bereits zu diesem Zeitpunkt lieferte er gute Belege dafür, dass seine Forschungsergebnisse valide sind.

ÜBER DEN FORSCHUNGSSTAND

Die Diskussionen über das Phänomen Ninja, die Authentizität von historischen Traditionen sowie die Legitimität von modernen Ninjutsu-Schulen sind nicht neu. Vor allem im Internet wird seit Jahren rege darüber diskutiert. Darüber hinaus ist der Gegenstandsbereich mehr und mehr zu einem Bestandteil eines wissenschaftlichen Diskurses geworden. Im Zuge dessen befinden sich respektable Wissenschaftlicher, Buchautoren und Praktiker, Militärhistoriker, Japanologen und Hoplologen gleichermaßen in einem erkenntnisbringenden Prozess über die Hintergründe und historischen Entwicklungen des gesamten Themenkomplexes.

Fernab des gängigen Ninja-Bildes und dessen populärwissenschaftlicher Aufarbeitung wie von Andy Adams (u. a. 1970), Donn F. Draeger (1977) und Stephen K. Hayes (seit 1980) gibt es verschiedene Ansätze, die auf Basis valider Argumente Kratzer am bisherigen Konstrukt hinterlassen. So kolportiert Ikeda Hiroshi, dass das Ninjutsu seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr existiert (What is a Ninja? In: Martial Science Magazine August 2015, S. 55-56). Diane Skoss, Fachjournalistin und Bujutsu-Adeptin, ist der Ansicht, dass heutige Ninjutsu-Schulen nicht auf fortgesetzte Transmissionen von Technik und Kultur basieren. Und Karl Friday, emeritierter Professor für Japanische Geschichte, geht noch einen Schritt weiter, in dem er sagt, dass die Vorstellung höchst fragwürdig sei, es könnte vor der Neuzeit ein besonderes, spezialisiertes Ninjutsu-Ryûha gegeben haben (“A Discussion on Ninja,” in: Journal of Japanese Sword Arts 11/6 #103 (1999), S. 33-39; Auszüge daraus hier).

Seit 2009 ist es vor allem der britische Buchautor Antony Cummins, der sich kontrovers mit dem historischen Ninjutsu auseinandersetzt und die These vertritt, dass Ninjutsu per se keine Kampfkunst mit physischen Aspekten ist, sondern ein System der Informationsbeschaffung und Sabotage. Er belegt dies unter anderem durch die Übersetzung und der Quellenanalyse alter Lehrschriften, wie des Bansenshûkai, Shôninki und Ninpiden. Seine Arbeit ist nicht unumstritten, da er selbst kein Japanisch spricht, liest und schreibt und sich bei seiner Arbeit einer Kollegin bedient, die in der Übersetzung von historischen Dokumenten nicht ausgebildet worden sein soll. Kacem Zoughari (2009) auf der anderen Seite teilt zwar einige Punkte der neueren Erkenntnisse, ist aber klar der Auffassung, dass ein spezialisiertes System Ninjutsu von Generation auf Generation über die Jahrhunderte weg bis in die heutige Zeit überdauert hat und heute noch praktiziert wird.

ÜBER DAS BUCH

Auf Basis einer intensiven Quellenarbeit legt Turnbull ein Buch mit 15 Kapitel auf 230 Seiten vor, in denen er sich, beginnend im 7. Jahrhundert bis in die heutige Zeit, wissenschaftlich umfassend mit dem Thema Ninja auseinandersetzt. Er verwendet dabei Quellen, die er 1991 bei seiner ersten Arbeit zu diesem Komplex (vgl. Ninja. The True Story of Japan’s Secret Warrior Cult) noch nicht vorliegen hatte. Erst seit der Zusammenarbeit mit der Mie University, die 2012 unter der Leitung von Professor Yamada Yûji das Forschungsprojekt „Iga Ninja Culture Collaborative Field Project“ ins Leben rief, das schließlich 2017 in das International Ninja Research Centre (siehe auch 1, 2) mündete, für das Turnbull den Eröffnungsvortrag hielt.

Nachdem er im Vorwort ausführlich seine Motivation für sein Buch erläutert hat, startet Turnbull seine Arbeit mit einer Untersuchung darüber, wie und von wem die unterschiedlichen Begriffe für Ninja (unter anderem Nin-sha, Shinobi, Shinobi-no-mono, Ninjutsu-mono, Ninjutsu-sha, Ninjutsu-tsukai) verwendet wurden und wie deren Nutzung sich im Laufe der Zeit verändert haben. Dabei stellt er fest, dass im Wesentlichen der Begriff Shinobi über eine lange Zeit der vorherrschende gewesen ist.

Um sich den Ursprüngen und der historischen Entwicklung des Ninja-Phänomens zu nähern, zieht Turnbull dann schließlich drei Quellenkomplexe für seine Untersuchung heran (vgl. S. 4). So schaut er sich zunächst an, wie der archetypischen Ninja – schwarz gekleidet und mit einem einzigartigen Waffenarsenal ausgestattet – heute verstanden wird. Dieses Bild zieht er als Ausgangslage für einen Vergleich mit einem Bild heran, das in der Vergangenheit existiert haben könnte. Im nächsten Schritt schaut er sich Abhandlungen verdeckter Kriegsführung von unvoreingenommenen Augenzeugen aus einer Zeit vor dem Jahre 1600 an, zu der in Japan noch Kriege geführt wurden. Und schließlich widmet Turnbull sich dem umfangreichen Schriftmaterial aus der Zeit, nachdem die innerjapanischen kriegerischen Auseinandersetzungen beendet wurden. Dabei findet er heraus, dass das Ninja-Bild in den Schriften der friedvollen Tokugawa-Zeit (1603-1868), das im Wesentlichen die Grundlage für das heutige Bild von Ninja und Ninjutsu darstellt, von zeitgenössischen Autoren aufgebauscht und manipuliert wurde und bereits zu dieser Zeit nicht mehr seinen historischen Ursprüngen entsprach.

In den Kapiteln 3 bis 6 verschafft Turnbull seinen Lesern dann einen umfassenden Blick über die Geographie und Geschichte der japanischen Gegenden Iga und Kôka, die vor allem in der modernen Literatur als Ursprung der Ninja-Idee gelten. Darin legt er unter anderem fünf authentische Berichte – vier davon erstmalig in englischer Übersetzung – von Geheimoperationen vor, die seinerzeit von Kämpfern aus Iga („Iga warriors“) durchgeführt wurden. Zeitgenössische Berichte dieser Art enden laut Turnbull dann allerdings bereits in den 1580er Jahren, bis von derartigen Taten erst wieder im 20. Jahrhundert die Rede sein wird (vgl. S. 76: “The Iga component of the Ninja myth was lying dormant and would slumber on like Sleeping Beauty, ready to be awakened during the twentieth century by a kiss from a handsome prince.“). Denn die Nachfahren der beiden Gruppierungen aus Iga und Kôka, so stellt Turnbull fest, waren von nun an am Hofe des Shôguns in Edo für die innere Sicherheit verantwortlich und dabei auch in der Informationsbeschaffung tätig (Kapitel 7). Damit hatte sich ihr Aufgabengebiet vollkommen gewandelt: „… if the two names meant nothing in terms of spying in 1590, by about 1680 they meant everything“ (vgl. S. 87). Zu den Untergrundoperationen aus der Sengoku-Zeit (1467-1603) ist mit den Spionageaktivitäten laut Turnbull ein weiterer Aspekt zum Ninja-Mythos hinzugekommen (vgl. S. 95).

In Kapitel 8 verlässt Turnbull die Entstehung des Mythos für einen Moment und nimmt sich dem Thema Ninjutsu („a topic over which there is a certain sensitivity that is largely absent from discussions of Ninja.“, vgl. S. 96) an, das er sich auf den nachfolgenden Seiten von der frühen Tokugawa-Zeit bis zum 20. Jahrhundert widmet. Dabei zieht er verschiedene Schriften, wie das Militärhandbuch Buyo Benryaku von 1684 oder das Kapitel „Betreffend Iga Ninjutsu“ des Iga Kyûkô von Kikuoka Jôgen von 1699, heran, die er als wesentlich für die Schaffung des Ninja-Mythos ansieht (vgl. S. 98) und die hauptsächlich das Material für jedes populäre Ninja-Buch seit Anfang des frühen 20. Jahrhunderts geliefert haben sollen (vgl. S. 100). Zwar seien viele dieser Schriftrollen heute inzwischen in der Übersetzung erhältlich. Turnbull weist allerdings darauf hin, dass die meisten überbearbeitet wurden, Teile aufgrund der besseren Verständlichkeit fehlen und Übersetzungen einfach nicht akkurat sind („… the word Ninja is regularly inserted where it never appears in the original“, vgl. S. 100). Zur Einordnung dieser Schriftquellen in den Gesamtkomplex kommentiert Turnbull im Folgenden daher die jeweilige japanische Originalversion: das Gunpo Jiyoshû von 1653 (S. 102-103), das um 1700 herausgegebene und vor allem unter dem Namen Ninpiden bekannte Shinobi no den (S. 103-104), das Mansenshūkai/Bansenshūkai von 1676 (S. 103-107) und das das Shôninki von 1681. Darüber hinaus ordnet Turnbull das um 1800 erschienene Ninjutsu Ôgiden in seine Forschung ein, für die er hier eine vollständige Übersetzung vorlegt (S. 109-112).

Im nächsten Kapitel 9 widmet sich Turnbull dem Ninja in der Populärkultur und bringt Beispiele von Abbildungen, wie denen des japanischen Künstlers Hokusai (1760-1849), die allerdings laut Turnbull in keiner Verbindung zu den historischen Vorbildern, und schon gar nicht zu den Shinobi aus den bereits von ihm beschriebenen Lehrschriften, stehen. Dasselbe gilt für die Vielzahl von historischen Romanen und Heldengeschichten sowie den Stumm- und Tonfilmen aus neuerer Zeit, so dass er im folgenden Kapitel 10 schließlich im 20. Jahrhundert und den zentralen Figuren des heutigen Ninja-Bildes, Itô Gingetsu (1871-1944) und Fujita Seikô (1899-1966), angekommen ist. Deren in sich selbst widersprüchlichen Werke – so Turnbull –, die sich dem verzerrten Ninja-Bild der historischen Lehrschriften bedienen und mit Fehlinterpretationen der Verfasser gemischt wurden (vgl. S. 123), stellen schließlich das bis dahin unwidersprochene Ninja-Bild der 1960er Jahre dar.

Als „Erfinder der Ninja“ (vgl. S. 144) identifiziert Turnbull allerdings Okuse Heishichirô (1911-1997), seinerzeit Stadtbeamter und Bürgermeister von Iga, der zusammen mit dem Romanbuchautor Adachi Ken’ichi die Region Iga in den Fokus des öffentlichen Interesses stellte (Kapitel 11). Kapitel 12 zeigt uns die weitere Evolution des Ninja im Film und wie das Ninjutsu durch die Filmindustrie und deren Berater darin zu einer Kampfkunst weiterentwickelt wurde.

Um zu zeigen, dass nach und nach über die Zeit immer wieder Teile zu dem Ninja-Bild gefügt worden sind, blickt Turnbull auf die „Ninja-Waffe par excellence“ (vgl. S. 166), die Shûriken. Seine Fallstudie (Kapitel 13) zeigt, dass Shûriken in Form der heute bekannten Wurfsterne, zum Teil eine moderne Erfindung sind und erst von Fujita Seikô 1936 in die Ninja-Welt eingeführt wurden. Kapitel 14 widmet sich dann damit, wie Städte heute den Mythos zu kommerziellen Zwecken zunutze machen.

Am Ende seiner Arbeit kommt Turnbull schließlich zu dem Schluss, dass die Ursprünge unseres Ninja-Bildes zwar in der verdeckten Kriegsführung aus einer Zeit vor dem Jahr 1600 liegen, es über die Jahrhunderte aber immer wieder neu erfunden wurde. Demnach sind das, was wir heute als Ninja sowie Ninjutsu ansehen, im Ergebnis nichts mehr als moderne Konstruktionen, zusammengefügt aus historischen Mosaiksteinen, die erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dem gemacht wurden, was sie heute sind.

BEWERTUNG

Nicht zum ersten Mal beschäftigt sich Turnbull mit dem Themenfeld Ninja. In den vergangenen Jahren seit Anfang der 1990er Jahre hat er sich bereits verschiedene Male mit dieser Materie auseinandergesetzt. Mit dieser bisherigen Arbeit war er, wie er sagt, nicht mehr zufrieden. So kommentierte er diesen Umstand in seinem Aufsatz von 2014 (siehe oben) außerordentlich selbstkritisch, als er feststellte, dass er sein Buch von 1991 zu enthusiastisch und wenig unreflektiert verfasste („… I shall therefore re-examine the evidence with a degree of academic rigor that may have been lacking in 1991“).

Dieses Mal geht es ihm nun darum, eine wissenschaftlich belastbare Abhandlung dieses Aspekts der japanischen Geschichte zu schreiben, dem Mythos Ninja umfassend auf den Grund zu gehen und diesen – wie im Titel angekündigt – zu demaskieren. Dies gelingt Turnbull sehr gut, indem er zahlreiche Originalquellen nutzt und von seinen Ursprüngen bis in die heutige Zeit in die jeweiligen historischen Kontexte setzt. Gleichzeitig orientiert er sich stets an den neuesten Erkenntnissen seiner japanischen Forschungskollegen, die spätestens seit der Etablierung des Forschungsschwerpunkts Ninja an der Mie University eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung dieses japanischen Kulturerbes anstreben. Vieles sei auf diesem Weg schon erreicht worden, es sind aber weitere Nachforschungen erforderlich, um alle Facetten zu erfassen, wie Turnbull – seine Kollegen zitierend – feststellt (vgl. S. 191).

Im Ergebnis steht die Erkenntnis, dass das heutige geläufige Konzept des Ninja ein konstruiertes Bild ist, das sich erst in den 1950er/60er Jahren zu dem entwickelt hat, was es heute ist. Viele der bisherigen im Raum stehenden Diskussionspunkte haben damit eine neue Dimension erreicht. So stellen die Forschungsergebnisse aktive Ninjutsu-Gruppierungen infrage, die sich in einer historisch übertragenden Traditionslinie sehen und ihre mutmaßliche Authentizität wie „Mitglieder eines religiösen Kults“ (Turnbull) verteidigen. Es ist zu erwarten, dass nicht zuletzt dieser Umstand zweifellos zahlreiche kritische Stimmen hervorrufen wird, welche die Ergebnisse von Turnbulls Arbeit anzweifeln werden.

Da Turnbull zahlreiche Fachbegriffe und japanische Wörter verwendet, sind für die Lektüre des Buches Kenntnisse der Materie und der japanischen Geschichte äußerst hilfreich – wenngleich nicht zwingend erforderlich. Die zahllosen Bemerkungen des Autors, die zusätzlich zum Text zahlreiche wertvolle Informationen liefern, finden sich als Endnoten am Ende des Buches und sind umständlich nachzuschlagen. Dass manche Quellen in den Endnoten genannt werden, aber in der Bibliographie fehlen, ist am Ende zu vernachlässigen. Eine nützliche Ergänzung wäre es gewesen, wenn der Autor im Quellenverzeichnis die Titel der japanischen Quellen zum besseren Verständnis und der inhaltlichen Einordnung übersetzt hätte.

Fazit: Turnbulls Arbeit reiht sich nicht nur in Reihe prominenter Arbeiten ein, die es sich zum Ziel gemacht haben, den Mythos Ninja genauer wissenschaftlich zu beleuchten. Er setzt vielmehr eine neue Messlatte. Prädikat: Äußerst empfehlenswert. Es bleibt zu hoffen, dass sich schon bald weitere engagierte Forscher diesem interessanten Aspekt der japanischen Geschichte annehmen und ihre Ergebnisse der nicht-japanischsprachigen Leserschaft präsentieren werden.