Als er vor mehr als 35 Jahren das erste Mal den Fuß auf Boden der Insel Okinawa setzte, hatte er sich noch nicht vorstellen können, wohin seine Reise einmal führen würde. Heute ist Joachim Laupp (9. Dan Hanshi) offizieller Repräsentant des Shôrin-Ryû Shidôkan in Deutschland und Europa und unterrichtet europaweit Hunderte von Schülerinnen und Schüler.
Herr Laupp, wie war das, als Sie Anfang der 1980er zum ersten Mal auf Ihren Lehrer Miyahira Katsuya (1918-2010) trafen?
Es war der unglaublichste Moment meines Lebens. Ich war zuvor schon einmal in Japan und hatte dort, und auch in Europa, einige japanische Meister kennengelernt, aber die erste Begegnung mit meinem Lehrer, Miyahira Katsuya (10. Dan Hanshi), war einfach unbeschreiblich. Er war ein Mann mit großer Ausstrahlung und einer Aura, die einen bis auf das tiefste Innere beeindruckte. Ich stand einem Meister gegenüber, der eine unglaublich starke körperliche und geistige Kraft ausstrahlte. Es war der beeindruckenste Moment meines Lebens.
Sie blieben eine Zeitlang zum Training auf Okinawa und besuchen die Insel seitdem mindestens zweimal im Jahr. Wie sah das Training bei Miyahira Sensei aus?
Ich hatte jeden Tag am Morgen drei private Einzelstunden auf dem Karate-Weg bei Miyahira Sensei, welche mich stets an meine physischen und psychischen Grenzen brachten. Es war jedes Mal streng und hart. Am Nachmittag übte ich ein bis zwei Stunden Kobudô und am Abend war im Shidôkan Honbu Dôjô das Training aller Shidôkan Schüler mit unserem Lehrer angesagt. Es war eine sehr schwere und harte Zeit für mich, denn jeder der Seniorschüler wollte mir zeigen, wo es lang geht. Oftmals hatte ich meinen Koffer gepackt, um nach Hause zu fliegen, aber am nächsten Morgen stand ich wieder im Dôjô, bereit für die nächste Lektion.
Karate verändert sich über die Zeit. Und Katsumi Murakami sagte einmal, es sei nicht überraschend, dass das Karate von zwei Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten verschieden ist. Wie nah ist das, was Miyahira unterrichtete, an dem dran, was sein Lehrer Chibana Chôshin wiederum von seinem Lehrer Itosu Ankô lernte?
Sehr nah. Sehr sehr nah, weil Chibana Sensei seine innere Lehre, welche er von Itosu Sensei empfing, genauso an seinen inneren Schüler und Nachfolger, Miyahira Katsuya, weitergab. Itosu Ankô Sensei unterrichtete zwei Arten von Karatedô, ein entschärftes Karate für die Allgemeinheit und das originalgetreue Karate nur für seine inneren Schüler, wovon einer eben Chibana Chôshin Sensei war. Chibana Sensei hat die originale innere Lehre unverfälscht an Miyahira Sensei weitergeben.
Jeder Mensch, jeder Meister hat seine eigene Persönlichkeit, mit der er unterrichtet. Ich kann nur wiederholen wie mein Lehrer, Miyahira Katsuya, war. Und ich bin davon fest überzeugt, dass er sich streng an das, was er von seinem Lehrer gelernt hat, angelehnt hat. Miyahira Sensei war streng, aber gerecht. Er war äußerst genau, was die Übungen angeht und nicht direkt mit der Leistung zufrieden zu stellen. Man musste schon ein sehr gutes Durchhaltevermögen an den Tag legen, um ihn einigermaßen zufrieden zu stellen. Itosu Sensei ist eben Itosu Sensei, Chibana Sensei ist Chibana Sensei. Und Miyahira Sensei ist Miyahira Sensei!
Es heißt, dass Miyahira Sensei einer der wenigen war, die das harte Training bei Motobu Chôki aushielt, während andere nach kurzer Zeit aufgaben. Waren Sie zu Beginn Ihrer Lehrzeit bei Ihrem Meister auch geneigt, das Handtuch zu werfen?
Wie ich schon erwähnte …, mehrmals. Ich wollte sogar mein Karate ganz aufgeben. Ich hatte Momente, wo ich Karate nicht mehr verstanden habe, ständig kurz vor dem Aufgeben stand, manchmal beschämend für mich. Jede Nacht kam immer wieder dieses Gefühl in mein Herz und in meinen Bauch: „Nicht Aufgeben, weiter machen! Steter Tropfen höhlt den Stein“. Ich habe nicht aufgegeben, im Gegenteil, ich bin von Tag zu Tag stärker geworden. Ich kann nicht genau sagen welche Kraft mich immer wieder ins Dôjô getrieben hat, aber diese Kraft war auf jeden Fall sehr stark. Ich bin glückselig, dass ich nicht das Handtuch geworfen habe!
Üblicherweise spricht man von drei Säulen des Karatedô: Kihon, Kumite und Kata. Sie gründen Ihr Training auf fünf Säulen. Welche sind das?
Ja, im Sportkarate sind es drei Säulen: Kihon, Kata und Kumite. Ich habe von meinem Lehrer, Miyahira Katsuya, gelernt, dass der Weg des Karate im traditionellen Sinne auf fünf Säulen aufgebaut ist, nämlich: Kihon, Kata, Bunkai, Makiwara und Kumite. Ich habe in meinem Dôjô fünf Säulen stehen, die die Decke stützen. Jede dieser Säulen steht genau dafür. Ich bin ich, …, ich bin der, der ich bin. In meinen Dôjôs gibt es eine geistige, gedachte sechste Säule, welche sich von den anderen fünf Säulen abhebt. Und dies ist die „Geistige und mentale Haltung“ demgegenüber, was man tut, oder übt – immer mit dem gleichen Respekt zu tun, als stände der Meister allgegenwärtig einem gegenüber!
Was ist das Wichtigste für Sie, dass Sie von Miyahira Sensei gelernt haben?
Als Erstes seine gesamte Lehre über Budô. Dann: über das Leben, über die Gesellschaft in der wir leben, über das Sterben, Menschlichkeit, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Strenge gegen sich selbst, Freundlichkeit gegenüber anderen, stetiges Üben, niemals aufzugeben, Gemeinsamkeit, gemeinsam zu erblühen und glücklich zu sein und vor Allem zu seinem wahren Selbst zu finden!
Sie haben einmal gesagt, dass das Karate – Itosu Ankô zufolge – den Menschen zum Positiven verändern kann und er aufgrund dessen auch die Einführung des Karate in den okinawanischen Schulunterricht zum Beginn des 20. Jahrhunderts unterstützte. Ein großer Schritt für eine Kampfkunst, die eine lange Zeit in Verborgenen unterrichtet wurde. Jetzt ist Karate auf den Weg nach Olympia. Wie stehen Sie dazu?
Ja, das stimmt. Karate wirkt sehr positiv auf die Menschen, wenn sie es richtig betreiben. Karate an Schulen zu üben und in den Schulunterricht einzubauen, halte ich für sehr klug. Es gibt das Sport-Karate und es gibt es traditionelle Karatedô. Beide unterscheiden sich insoweit, dass Sport ein Anfang und ein Ende hat, und Budô – als Überbegriff für alle Kampfkunstdisziplinen – einen Anfang hat, aber kein Ende, vorausgesetzt, dass man es richtig und stetig betreibt. Ein Motto von mir: „Budô beinhaltet Sport, aber Sport beinhaltet kein Budô“! Wenn ich ehrlich bin, geht der Inhalt und der Sinn von Budô mit Olympia unter! Als Sport für viele okay, aber als traditionelle Kunst für die, welche die Traditionen achten, ohne Wert.
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