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Rita Németh: Kyūdō im Wandel: Das japanische Bogenschießen von 1900 bis heute
(Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Süd- und Ostasienforschung, Band 9) 
Ergon Verlag 2019, 284 Seiten, ISBN978-3-95650-596-6

Kyūdō (Japanisch: 弓道) oder der „Weg des Bogens“ ist die Kunst des japanischen Bogenschießens. Wie auch andere mit dem Suffix „dō“ versehenden Systeme wie beispielsweise das Iaidō (Japanisch: 居合道), Jūdō (Japanisch: 柔道) und Kendō (Japanisch: 剣道), hat sich auch das Kyūdō aus den japanischen Kriegskünsten entwickelt. Im Vergleich zu dem olympischen Bogenschießen ist der langsame, zeremoniell anmutende Bewegungsablauf, die traditionelle Bekleidung sowie der handwerklich hergestellte Bambusbogens und sowie die Bambuspfeile für das japanische System charakteristisch.

Ist Kyūdō aber eine (Breiten-)Sportdisziplin oder eine Kunstform? Welche Rolle spielen Mystik, Religiosität dabei? Und wie hat sich das Verständnis darüber über die Jahrzehnte verändert. Diesen Fragen ist die Japanologin Rita Németh in ihrer Inaugural-Dissertation „Wertewandel und Wandel der Selbstdarstellung im japanischen Kyūdō von der Taishō-Zeit bis zur Gegenwart“ an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn (2018) nachgegangen. Darauf basiert das hier besprochene Buch.

Wer sich aber einen Einblick in eine geistige Kyūdō-Thematik erhofft hat, wird enttäuscht. Unter Rückgriff auf die erstmalig auf Japanisch im Jahr 1999 veröffentlichte Analyse des Kulturwissenschaftler Yamada Shōji verweist Németh bereits zu Beginn zu Recht auf die von Eugen Herrigel (1884-1955) in seinem 1948 erschienenen Buch „Zen in der Kunst der Bogenschießen“ konstruierte mythische Verbindung von Kyūdō und dem Zen-Buddhismus. In diesem Kontext betont Németh treffenderweise, dass der Blick auf eine Spiritualität des Kyūdō viel zu kurz greift und viele andere Facetten außer Acht lässt (S. 24f). 

Dass Kyūdō nicht eindimensional gesehen werden darf, wird dann in dem weiteren Verlauf eindrücklich gezeigt. Németh analysiert die verschiedenen kulturellen, philosophischen und sportlichen Aspekte des Kyūdō in ihrem historischen Wandel unter Verwendung wissenschaftlicher Methodik und dem Einbezug einer umfassender Quellenbasis japanischer, englischer und deutscher Literatur. 

Wer sich mit ostasiatischen Kampfmethoden und -systemen auseinandersetzt, kommt nicht umhin, sich auch mit dem Sportbegriff auseinanderzusetzen. Es ist aber Vorsicht geboten, da, wie bereits Martin Filla in seiner Dissertation über die „Grundlagen und Wesen der altjapanischen Sportkünste“ (1939, S. 5) feststellt, dass man nicht außer Acht lassen dürfe, dass die alten Systeme „nicht als Sport im westlichen Sinne verstanden und ausgeübt wurden“. Auch wenn seine weitere Beschreibung stark ideologisch gefärbt ist und sich vermutlich an Herrigel anlehnt, weist darauf auch Otto Kollreutter (1943, S. 7) trefflich hin, wenn er schreibt: „[M]an kann die alten japanischen Sportarten des Judo (Jiu-Jitsu), des Fechtens (Kendo), des Ringes (Sumo) und vor allem des Bogenschießens (Kyudo) nicht als reinen Sport in unserem Sinne bezeichnen“. Aus diesem Grund definiert Németh die theoretische Grundlage ihrer Untersuchung anhand der von ihr verwendeten Schlüsselbegriffe „Sport“, „Bewegungskultur“, „Werte“, „Normen“, „Ziele“, „Wertewandel“ und „Kulturtransfer“. Hierzu zieht sie Publikationen heran, die „ihren Schwerpunkt auf die Erforschung von Werten und deren Wandel in der Sport- beziehungsweise Bewegungskultur einer Gesellschaft richten“ (S. 53).

Die Autorin betrachtet den Forschungsgegenstand dann wie im Titel angekündigt vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit, nicht ohne aber den Leser:innen einen Einblick in die vormoderne Entwicklung des Kyūdō und den unterschiedlichen Ausprägungen des japanischen Bogenschießens zu geben (S. 91ff). Ihre Analyse beginnt schließlich im Jahr 1900, einer Zeit, in der das japanische Kaiserreich nach einem Sieg im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg (1894-1895) mit Stolz geschwelter Brust seine Militarisierung zielstrebig vorantrieb. Im Anschluss blickt Németh dann auf die Taishō-Zeit (1912-1926) bis zum des Zweiten Weltkriegs (S. 103ff) sowie auf die Entwicklung des Kyūdō seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (S. 133ff). 

Wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit ist die inhaltanalytische Auswertung von hunderten Kyūdō-Magazinen des Großjapanischen Kyūdō-Verband Dai Nippon Kyūdōkai (Japanisch: 大日本弓道会) sowie des Zen Nihon Kyūdō Renmei (Japanisch: 全日本弓道連盟). Auf dieser Grundlage kann sie das Kyūdō für die 1920er Jahre als „elegantes Mittel zur Lebenspflege“ einordnen. In den 1920er und 1930er Jahre wird Kyūdō ihrer Untersuchung zufolge dann als „einheimischer Sport und Moralerziehung“ gesehen. In den 1930 Jahren stellt Németh einen Übergang zur Perzeption des Kyūdō als „Mittel zur körperlichen und geistigen Ertüchtigung“ fest. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einem Kyūdō-Verbot im Zuge des Verbots aller Kampfkünste in Japan durch die Besatzungsmächte läuft das Kyūdō in den 1950er Jahren vor allem unter dem Label „Budō des Friedens“. In den folgenden Jahrzehnten wird es dann als „elegante Kunst der östlichen Philosophie“ (1950-1960er Jahre) und „Nationalsport zur Förderung der Gesundheit“ (1960-1970er Jahre) gesehen. In den 1980er Jahre steht Kyūdō unter der „Kritik überholter Ideale“, in den 1990er Jahre wird es als „Weg zur Persönlichkeitsbildung und Selbstverwirklichung“ und in den 2000er Jahren schließlich als „Sport zur glücklichen Lebensführung“ gesehen. 

Mit dieser Einordnung kann Németh erstmalig den Wertewandel im japanischen Kyūdō in dem von ihr definierten Zeitraum empirisch darlegen.

Fazit:

Der Japanologe Andreas Niehaus hatte bereits im Jahr 2000 treffenderweise in seiner Besprechung zu Heiko Bittmanns Publikation „Karatedō. Der Weg der leeren Hand. Meister der vier großen Schulrichtungen und ihre Lehre“ (1999) gefordert, dass im Bereich ostasiatischer Kampfkünste fundierte japanologische Arbeiten gefragt sind.

Mit ihrem Buch legt Németh genau eine solche Arbeit vor. In ihrer einzigartigen Studie über das japanische Bogenschießen dokumentiert sie umfassend, wie das Kyūdō und dessen Werte während des 20. Jahrhunderthunderts in Japan wahrgenommen wurden. Dabei stellt sie verständlich dar, wie dieses Verständnis über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren einem steten Wandel unterzogen war. Das Ergebnis ist eine hervorragende wissenschaftliche Arbeit, die Kyūdō-Adepten, sport- und bewegungskulturhistorisch Forschenden sowie Kampfkunstbegeisterten eine qualitativ-hochwertige Lektüre bietet.

Darüber hinaus setzt die Arbeit von Németh einen wichtigen Impuls: Denn die Frage danach, wie sich die Wahrnehmung einer Kampfkunst über die Zeit hinweg wandelt, sollte unbedingt auch bei anderen japanischen Budō-Disziplinen in einem angemessenen Umfang diskutiert werden. So böte sich beispielsweise eine entsprechende Untersuchung des ursprünglich von den Ryūkyū-Inseln stammenden Karate(-dō) an, das von einer privat geübten Methode in vormodernen Zeiten im Jahr 1905 in den Unterricht okinawanischer Schule eingeführt und ab 1922 an japanischen Universitäten gelehrt wurde, und dessen weiterer Weg über seine Verbindungen zu einem wachsenden Militarismus in Japan zur Versportlichung national sowie international und schließlich zu einer olympischen Disziplin führte. Németh hat zweifellos dafür eine wichtige Blaupause geliefert.

Quellen:

Filla, Martin (1939): Grundlagen und Wesen der altjapanischen Sportkünste. Würzburg-Aumühle: Konrad Triltsch Verlag

Kollreutter, Otto (1943): Japaner. Berlin: Luken & Luken

Yamada, Shōji (2001): The Myth of Zen in the Art of Archery, in: Japanese Journal of Religious Studies, 28/1-2