Im Jahr 1922 begann Funakoshi Gichin (船越義珍, 1868-1957), Karate außerhalb der Präfektur Okinawa zu verbreiten. Seitdem sind hundert Jahre vergangen. Vor diesem Hintergrund widmete die Okinawa Karate Academy am 24. November 2022 einen Vortrag über die Zeit Funakoshis auf Okinawa, der von Nakamura Akira, Forscher der Okinawa Karate Promotion Division, gehalten wurde.
Zusätzlich zu bereits bekannten Informationen wurden in diesem Vortrag einige interessante neue Aspekte aus Funakoshis Leben geteilt. Der Höhepunkt sind jedoch drei Gedichte oder Ryūka (琉歌), die aus der Feder von Funakoshi Gichin stammen und vermutlich im Jahr 1909 geschrieben wurden. Die Gedichte sind ursprünglich in einer Sammlung der Ryūkyū-Dichtung der Universität von Taiwan enthalten. Das „Ryūka Taikan“ (琉歌大観) ist eine Gedichtsammlung, die der okinawanische Historiker Majikina Ankō (真境名安興, 1875-1933) vor dem Krieg zusammengestellt hat, die aber nie veröffentlicht wurde. Sie wurden im Jahr 2021 von Nakamura Akira gefunden. Erstmalig habe ich hier über diesen Fund berichtet.
Nachdem ich bereits eine erste englische Übersetzung in einer Facebook-Gruppe geteilt habe, möchte ich nachfolgend gerne eine erste deutsche Übersetzung von Funakoshi’s Gedichten vorstellen.
(1) 短いのは延ばして、長いのは短くして、 浮世にものさしをあてて渡りたいものだ。
Ich will das Kurze verlängern, das Lange verkürzen und die schwebende Welt mit einer Waage durchqueren.
(2) 私の心を知る人がこの世にいらっしゃるならば 訪ねていらっしゃい、一緒に語りましょう。
Wenn es jemanden auf dieser Welt gibt, der mein Herz kennt, dann komm mich besuchen und lass uns miteinander reden.
(3) 見る人は誰も他人に知らせてくれるな、 人目を避けるこの二人の心を知ったのなら。
Lass niemanden, der mich sieht, andere informieren, wenn du die Herzen dieser beiden Menschen kennst, die es vermeiden, gesehen zu werden.
Laut dem Vortrag der Okinawa Karate Academy hatte Funakoshi Gichin, bevor er 1918 (!) an einer bōjutsu (棒術)-Demonstration im Kyōto Butokukai (武徳会) teilnahm, bereits 1910 in Ōsaka Karate demonstriert. Zumindest in diesem Punkt muss die moderne Karategeschichte wohl in kleinen Teilen neu geschrieben werden. Alles in allem phänomenale Neuigkeiten! Die Forschung geht weiter.